Porträtfotografie von Alfons Paquet, Fotograf: T. H. Voigt. Heinrich-Heine-Institut, Rheinisches Literaturarchiv, Sammlung Handschriften - Archiv der rheinischen Dichter. Quelle: Link

Alfons Paquet: So sagt ein Sohn dieser Stadt

So sagt ein Sohn der Stadt von seiner Jugend und von seiner Stadt. Ich bin hoch über der Straße geboren; Meine erste Fremde war das graue Mietshaus mit seinen breiten Treppen und vielen Fenstern Und die Türen der Wohnungen an der Treppe, und die Falltür über der Leiterstiege

Und die Werkstatt, wo ich zwischen den Gesellen spielte,

Die mich foppten und auf der Hebelstange der eisernen Presse reiten ließen.

Ich lief auf den Straßen, hinten auf die Wagen zu springen

Und beim Haschen durch die krummen Gäßchen und Höfe,

In alten Lauben, in fremden Hausfluren und Treppenwinkeln und Dachböden mich zu verstecken mit lautem Herzklopfen.

Ich war unter sechzig Knaben in der Schulklasse

Und sah von meiner Bank die Uhr am Kirchturm und den goldenen Gockel durch das Fenster.

Ich war ein Freund des Kastanienbraters an der Ecke und des Brezelbuben, der alle Samstag kam;

Der alte Dienstmann vor der Haustür beschenkte mich mit einem Bissen Rettich von seinem Frühstück;

Wenn der Drehorgelspieler in den Hof kam, so sprang ich bis zur Mansarde hinauf, um ihm von hoch oben mein Pfennigstück hinunterzuwerfen.

Viele Leute machten ihre Fenster auf und warfen ihre Pfennige, in Papier gewickelt, auf seinen lustigen Leierkasten.

Ich stand des Abends im dunklen Schlafzimmer hemdig hinter dem Fenster, die Scheiben behauchend und abwischend;

Ich starrte in die tiefe Straße hinunter und sah die Leute dicht an den Schaufenstern vorübergeschoben

Und die elektrischen Wagen aufgeregt klingelnd langsam einander folgen mit ihren farbigen Lichtern an den Dachstirnen

Und darüber die Funken krachen am Kabel Und die blauen Spritzer und der Rädern,

Immer rollten Wagenräder (das Porzellan im Zimmer klappert leise),

Pferde rutschten aus auf dem Pflaster (eine Frau schreit, Leute laufen zusammen).

Im Bett ausgestreckt lauschte ich bang den Glocken,

Ihrem wimmernden und frohen und drohenden Getön, als sänge die Erde zum Himmel.

Jeden Abend war ich eingelullt vom Gesumme der Stadt

Und vom träumerischen Spiel der Lichtreflexe an der Zimmerdecke.


Ich habe früh an Sorgen und Freuden teilgenommen,

Vom Vater betraut, und von der Mutter zärtlich bewacht, von Ihnen unterwiesen

In der Welt zu sein, aber nicht von der Welt zu sein.

Wie die Straßen und die Häuser, so kannte ich viele Menschen und ihre Eigenschaften bei den Namen;

Ich kannte jung das rohe Geschäft des Marktes und der Fell-Lager,

Ich merkte von Kauf und Verkauf, von Reichwerden und Armwerden,

Von Familienfesten und Trauer, von Geratenen und Ungeratenen;

Ich stand vor den Glasschränken der Museen; ich brachte Steuern in das Rathaus;

Ich kam täglich an der Kaserne vorüber, wann die Wache aufzog mit festem Tritt, mit Kommandorufen und Getrommel,

Und lauschte des Abends dem Hornsignal, das über die Straßen rief, langgezogen, kriegerisch anzuhören.

Sommer um Sommer ging ich näher den Mädchen, die in muntern Schwärmen

Des Abends aus den Fabriken und aus den Geschäften nach Haus gehen.

Ich bewunderte Hochzeiten in allen Kirchen der Stadt; ich sah ein Feiertagseffen in einem Pfründnerhaus;

Ich sah ein Kornhaus im Feuer mitten in der Nacht (die brennenden Garben flatterten steil in der Luft);

Ich schlich durch verrufene Gassen, bang und irrgemacht von den Lockungen dort;

Ich beobachtete die Gesichter der Sträflinge, die ins Gefängnis vom Arbeitsplatz zurückkehrten, in ihrer grauen Kleidung;

Ich sah das Innere fremder Häuser, die Gewohnheiten bedauerter und beneideter Leute;

Zuwellen ging ich allein über den weiten Friedhof auf dem Hügel am Walde;

Ich betrachtete im Leichenhaus die geschlossenen Särge;

Ich lief mit der Menge, angezogen von dem Trauermarsch und dem Pomp großer Begräbnisse mit Uniformen und schwarzen Röcken und zwanzig Kutschen und zahllosen Kränzen;

Oder vom Gesang des Volks, von den seidengestickten Fahnen und Baldachinen und dem Goldprunk der Prozessionen, die feierlich daherkommen auf der mit Schilf und Rosenblättern bestreuten Straße;

Oder von den frischfröhlichen Aufzügen der Turner und der Radfahrer, und der Schützen mit Sträußchen in den Gewehren.

Mit Kameraden lief ich in den Taunuswald, in Dörfer, oder zu rudern an den Rhein,

Oder verspielte den Tag ungesehen auf den Talwiesen, bei den Brombeerbüschen am Walde.

Des Sommersonntags ging ich im Park spazieren wie andere geputzte Leute

Oder saß vor den Kaskaden und den papageienbunten Beeten im Schatten der alten scheckigen Platanen.

Ich hörte Konzerte in den Sälen, deren Leuchter glitzern,

Sah und hörte das elegante Orchester herrlich spielen und die Sängerin überirdisch schön singen, in weißer Seide, weiße Rosen in der Hand;

Und kehrte immer wieder zurück in die alte Straße in das alte haus,

Verliebtheit, Kummer oder Ungeduld im Herzen.


Der Vater nahm mich mit auf kleine Reisen, über Land zu den Bauern,

In andere Städte zu den Geschäftsfreunden und den Verwandten.

Ich kam heim mit schwäbischem oder rheinischem Mund und wurde belobt oder ausgelacht.

Die Stadt veränderte sich, und ich veränderte mich:

Sie setzte Bauplätze an, neue Straßenzüge, wo bisher grüne Bleichen an Weidenbächen waren;

Dor dem Rathaus, das schwarz behangen war unter seinen Flaggen, die halbmast schwankten,

Versammelte sich die Bürgerschaft zur Trauerfeier für den Kanzler, die die Einheit derer geschaffen hatte, die allenthalben heute trauerten:

Entblößten Hauptes fangen alle das deutsche Lied beim großen Chor der Glocken und beim Lodern schwärzlicher Flammen rings um den Platz.

Monumente wurden errichtet auf vertrauten schlichten Plätzen,

Altmodische Häuser abgebrochen, Häuser aus Eisen und Glas aufgebaut, die fremde Namen trugen.

Ein alter Jahrmarkt[1] wiederholte sich nicht; ganze Straßen brachen in Schutt und wurden neugebaut;

Bekannte zogen fort oder starben, mehrere jedes Jahr.


Sohn der Stadt, auch in andern Städten heimisch: in der Hauptstadt,

die braust und funkelt bei Tag und Nacht voller Arbeit und Verderben;

In behaglichen Kleinstädten Thüringens und der Pfalz;

In einer reichen Hansastadt, in einer vornehmen Stadt am Niederrhein;

In der fröhlichsten Stadt am Neckar; in ehrwürdigen Städten Frankens und des Elsas,

In heitern Städten Sachsens und Bayerns;

Und im Ausland: in der Weltstadt der Briten,

In behäbigen Kanalstädten der Holländer, in einer ernsten flandrischen Stadt,

In Schweizerstädten an weißen Gebirgen und blauen Seen;

In Städten der Russen mit ihren fremdartigen blau und goldigen Kuppeln in der Ebene;

In einsamen Hüttenstädten Asiens: in leichtgezimmerten Städten der Japaner;

In hochaufgeschossenen stählernen Städten der Amerikaner, in ihren Landstädtchen mit grünen Wegen und Blumenfülle;

In sonnigen Städten berühmter Stein-Paläste, im hochherrlichen Rom:

Überall sind Landsleute zu treffen, die ihre Heimat loben.

Ich kam zurück und erkannte die Stadt kaum wieder, so sehr war sie erneuert,

Doch Kameraden plauderten wieder wie vor langer Zeit,

Auf der Straße traf ich meine gealterten Lehrer wieder,

Und ich begann wohlgemut wieder in der Vaterstadt zu wohnen, an ihrem Geschick Anteil zu nehmen,

An ihren lebendigen Zusammenhang im Vaterland.

Ob seßhaft oder nicht seßhaft, ob in Sorge oder ohne Sorge:

Ich liebe das Vaterland mit freiem Sinn und großen Hoffnungen,

Denn ich liebe meine schöne mannigfaltige Stadt, sie kann mit allen den Vergleich aushalten;

Und ich bin stolz einer ihrer jungen Bürger.

Denn diese Zeit ist unser, die wir zum friedlichen Einverständnis wirken

Und die Kriege unsers größern Reiches kämpfen werden:

Der Arbeiter und der Bauer und der Fürst werden Bürger, sie wachsen hinein in unsere Ordnung:

Tüchtigkeit gilt und Achtung vor der Tüchtigkelt eines jeden, und die schönste Nachrede:

Ein Sohn Deutschlands, ein rechter Bürger der Welt.

Quellen

  • Wiesbaden. Ein Lesebuch. Die Stadt Wiesbaden einst und jetzt in Sagen und Geschichten, Erinnerungen und Berichten, Briefen und Gedichten, Herausgegeben von Diethard H. Klein und Heike Rosbach, Husum Verlag, 1988, ISBN 3-88042-382-2

Anmerkungen und Einzelnachweise

  1. Andreasmarkt